11 | 2024
EXERCISES
EXERCISES ist eine Reihe von Performances / Skulpturen, die sich mit der Frage befassen, wie Künstliche Intelligenz und Digitalität in unsere physische Realität eingebunden werden kann, ohne auf klassische digitale Schnittstellen wie Smartphones oder Computer zurückzugreifen. Die digitale Welt ist zum großen Teil körperlos und für die menschliche Sensorik nur sehr bedingt erfahrbar. Dieses Ungleichgewicht ist nicht zu vernachlässigen in Anbetracht dessen, wie stark digitale Medien und Agenten in die menschliche Lebenswelt hineinwirken ohne eine äquivalente Dialog- und Reibungsfläche im Gegenzug dazu zu bieten.
EXERCISES sind hybride Skulpturen und Performances, die aus Handlungsanweisungen und improvisierten textilen Objekten verbunden sind. Diese teils großformatiges Objekte bestehen aus gebrauchten Textilien, Haushaltsgegenständen, Matratzen, Folien, Fahrradschläuchen, Gurten Seilen und Müll – also Gegenständen, die ohne große Barriere vielerorts verfügbar sind. Die ausschliessliche Verwendung von Gebrauchsmaterialien und Wertstoffen zur Gestaltung ist eine bewußte Entscheidung. Hier geht es zum einen darum, eine niederschwellige Nachahmbarkeit anzuregen und praktische Nachhaltigkeit durch Zweckentfremdung und Recycling zu üben.
Interaktion für spürbare Digitalität
Die Skulpturen stellen bewusst spürbar physikalische Schwere her, begrenzen das Sichtfeld oder schränken die Bewegungsfreiheit ein. Hinter jeder spürbaren Reibung steht hier allerdings eine digitale Entsprechung – ein digitales Gegenüber, das sonst unsichtbar und unspürbar für uns Menschen ist und nur vom Geist allein begriffen werden kann. Die Besucher*innen werden eingeladen, die Objekte zu tragen, mitzugestalten oder den Handlungsanweisungen zu folgen.
EXERCISES ist inspiriert von den Arbeiten von Lucy McRae, die mit ihrer „Body Architecture“ den Körper ebenfalls als Erweiterung und Schnittstelle zur Technologie erforscht. Auch die Arbeiten von Donna Haraway zur Cyborg-Theorie inspirieren das Projekt, insbesondere in der Betrachtung von Körpern als hybride Orte zwischen Natur, Kultur und Technologie. Zudem verweist die Einbindung alltäglicher Materialien auf die künstlerischen Strategien von Marcel Duchamp, der Alltagsobjekte in einen neuen ästhetischen Kontext stellt.
NO-TECH für Übermorgen
EXERCISES verzichtet bewußt auf die Integration von üblichen elektrotechnischen Schnittstellen wie Sensorik, von Kamerasystemen oder von Bildschirmen und Projektionen. Stattdessen wird das Bild einer Gegenwart erzeugt, in der heutige Formen von Benutzeroberflächen gänzlich verschwunden sind und in uns umgebenden körpernahen Materialien, unserer Umwelt und unserer Sprache aufgehen. Technologie sollte sich am Menschen, Kultur und Gesellschaft orientieren und keinem Selbstzweck dienen.
PICKED EXERCISES
Folgend einige illustrierte Übungen, die auf verschiedene Bereiche digitaler Erfahrung zielen:
THE TRUE COST
Die Übung THE TRUE COST ist eine performative Skulptur und funktioniert nach folgendem Regelwerk: Finden Sie für jedes digitale Werkzeug, ein in Größe und Gewicht gleichwertiges Textilstück gemessen nach Ressourcenverbrauch, ggf. Trainings- oder Entwicklungsaufwands des jeweiligen Werkzeugs. Verwenden Sie die Bänder oder Gurte, um jedes Teil mit Ihrem Körper zu verbinden. Laufen Sie die abgesteckte Strecke im Kreis und ruhen Sie an Ihrem Startpunkt. Bei jeder Ruhepause überlegen Sie, welche der Services wirklich notwendig sind, welche Sie ggf. vergessen haben. Schnüren Sie ihre Last um und laufen Sie erneut die abgesteckte Strecke ab. Die Übung ist beendet, wenn Sie mindesten drei Durchläufe mit der identischen Bepackung hinter sich gebracht haben.
FOLLOW | UNFOLLOW | DM
Begriffe wie Freundschaft (Friendship), Anhänger (Follower) oder Direktkontakt finden weite Verbreitung in sozialen Netzwerken um digitale Gemeinschaften zu modellieren. Deren Bedeutung im realen sozialen Kontext unterscheidet sich allerdings stark davon, durch die komplette Abwesenheit von Körperlichkeit im digitalen Raum. Die Übung FOLLOW | UNFOLLOW | DM bietet zwei oder mehr Teilnehmenden die Möglichkeit überhöhte Entsprechungen dieser digitalen Interaktionen im realen Raum zu erproben. Schnell wird dabei klar, das körperliche Sensorik, in Form von körperlicher Nähe, also Wärme, Berührung oder Geruch einen erheblichen Einfluss drauf haben, welche psychologische Beziehung wir mit einer anderen Person eingehen möchten.
Die Übung kann in drei Varianten vollzogen werden – in Form eines verbindenden Schlauches für DIRECT MESSAGING oder Direktkontakt, einer Verschnürung im Prinzip Löffelchen für FOLLOWER oder der Verschnürung Rücken and Rücken für UNFOLLOW. Die Teilnehmenden sind angehalten jeweils 15min in gewählter Variante gemeinsam zu verbringen. Das Gesichtsfeld sollte dabei verdeckt sein, sodaß Bewegung, Sprache, Geruch und Wärme als sensorischer Input in den Vordergrund tritt.
ANTENNA
Die Präsenz von WLAN oder Bluetooth Funksignalen ist für uns heute selbstverständlich und allgegenwärtig. Diese Informationssphäre durchdringt uns in jedem Moment – körperlich sind wir allerdings nicht in der Lage, diese Form der Information wahrzunehmen. Abhilfe könnte ein Outfit schaffen, das induktive Antennen in sich verarbeitet hat. Durch flatternde Bewegung kann ein elektromagnetisches Feld erzeugt werden, das eine lokale, muskelbetriebene elektromagentische Instanz in dieser Sphäre erschafft. Durch sich aufstellende textile Fasern, bei starker Präsenz von Funksignalen entsteht damit eine körperlich wahrnehmbare Brücke und unseren menschlichen Körper. ANTENNA kann dabei weder Informationen decodieren, noch als Störsender fungieren – sondern macht lediglich den Präsenz digitaler Funksignale in unserer Umwelt körperlich erfahrbar.
ANGER-IN
Die Entwicklung neuer Technologien kommt stets einher mit der Intention unser Leben zu vereinfachen, Lebensqualität zu verbessern oder Zeit zu sparen und uns dadurch mehr Freiheit zu schenken. Die vermeintlichen Verbesserungen gehen allerdings oft einher mit Risiken und neuen Problemen und Verpflichtungen. Die Übung ANGER-IN zielt darauf ab, Frustration und Wut bei den Teilnehmenden zu provozieren durch die Durchführung der Aufgabenstellung allein – die offensichtlich nicht zu vollenden ist. Die Übung besteht aus würfelförmigen textilen Objekten. Das Ziel soll es sein, alle Würfel zu einem Turm gewisser Höhe aufzubauen. Durch die unregelmäßige Form der Würfel ist dies allerdings nahezu unmöglich.
ANGER-OUT
Digitale Systeme wirken weit in unseren menschlichen Alltag hinein. Diese Interaktion erzeugt nicht nur Wohlgefallen, sondern kann auch zu Reibung und Frustration führen. Die üblichen Mensch-Maschine Interfaces bieten hier keinen befriedigenden Zugang um Wut oder Frustration auszuleben zu können und zum Teil der Interaktion zwischen Mensch und Maschine zu machen. Nicht zuletzt der Umgang mit KI basierten Chatbots in natürlicher Sprache erzeut die Illusion einer natürlichen Mensch zu Mensch Kommunikation – die allerdings apprupt nach der Text- und Sprachebene endet.
Die Übung ANGER-OUT besteht aus einem schweren textilen Objekt, das, ähnlich einem Boxsack, an einer flexiblen Deckenhalterung montiert ist. Die Performende hat nun die Möglichkeit das Objekt zu treten, zu schlagen oder damit zu ringen. Diese physische Aktivität ist hier zentrales Ventil um angestaute Frustrationen körperlich zu manifestieren und damit Körper und Geist in verhandelnde Balance zu bringen. Diese Übung ist ideal als Gegenübung zu ANGER-IN, kann aber auch in Kombination zu anderen Übungen angewandt werden.
BACKTOUCH
Berührung und Bewegung sind essentielle Basisinteraktionen von Mensch zu Maschine. PRESS, TOUCH und SWIPE üben wir auf Keyboards oder Touchscreens aus um Maschinen zu kontrollieren. Die umgekehrte Interaktion findet sich allerdings eher selten und wenn dann vorranging im Bereich Gaming – z.B. Vibration des Controllers oder Imact Vests für VR. Die Übung BACKTOUCH besteht aus einem großen, vorranging textilen Objekt das von der Decke gehangen wird. Der Teilnehmende legt sich auch einen Teppich direkt darunter und kann mit einem Halteseil das Textile Objekt auf den eigenen Rücken gleiten lassen. Der Rücken, bzw. die sensorischen Rezeptoren auf der Rückenhaut sind besonders sensible Regionen des menschlichen Körpers, da hier nur anhand der Berührung Freund von Feind unterschieden werden kann. Wir sind also besonders sensibel und damit empfänglich für komplexe Informationen über diese Art der Interaktion. Mit dieser Übung können wir die bewußte Wahrnehmung dieser Form der Berührung trainieren. Etwas weitergedacht stellt sich die Frage: wie möchten wir vielleicht von Maschinen berührt werden? Wollen wir das überhaupt?
VERBINDUNGEN
Lucy McRae – „Body Architectures“
Lucy McRae, eine selbsternannte „Body Architect“, kombiniert Design, Performance und Technologie, um zu erforschen, wie der Körper mit seiner Umgebung und den Technologien interagiert. In Arbeiten wie „The Institute of Isolation“ (2016) untersucht sie die physische und psychologische Wirkung von Isolation und Körpermodifikationen, oft durch spekulative Szenarien und tragbare Skulpturen.
https://www.lucymcrae.net/home
Erwin Wurm – „One Minute Sculptures“
Wurms „One Minute Sculptures“ (ab 1997) fordern Teilnehmende auf, alltägliche Objekte auf unerwartete Weise zu nutzen, oft in absurder, körperlich herausfordernder oder instabiler Haltung. Die Werke zwingen den Körper in temporäre, aber symbolträchtige Konfigurationen, die einerseits humorvoll wirken, andererseits Fragen zu Normen, Kontrolle und Individualität aufwerfen.
https://publicdelivery.org/erwin-wurm-one-minute-sculptures/
Marina Abramović – Körperliche Präsenz und Grenzerfahrungen
Abramovićs Performances, wie „Rhythm 0“ (1974) oder „The Artist is Present“ (2010), stellen den Körper als Medium der künstlerischen und emotionalen Konfrontation in den Mittelpunkt. Sie erforschen die Ausdauer und das Durchhaltevermögen des Körpers sowie die Beziehung zwischen Künstlerin, Publikum und Handlung. Besonders in „Rhythm 0“ erlaubte sie es dem Publikum, ihren Körper zu manipulieren, was zu extremen emotionalen und moralischen Spannungen führte.
https://www.singulart.com/de/blog/2024/09/17/rhythm-0-von-marina-abramovic/
Bruce Nauman – Körperliche Absurdität und Wiederholung
Naumans Werke wie „Walking in an Exaggerated Manner Around the Perimeter of a Square“ (1967-68) oder „Clown Torture“ (1987) stellen Körper und Psyche in absurde, belastende Situationen. Die ständige Wiederholung einer scheinbar sinnlosen Aktion wird dabei zum zentralen Element. EXECISES reflektiert Naumans Ansatz, indem es absurde, körperliche Handlungen und Verhinderungen nutzt, um eine emotionale Reaktion hervorzurufen und die Teilnehmenden in die Reflexion ihrer Frustration oder Erkenntnis zwingt.
https://www.artforum.com/video/bruce-naumans-walking-in-an-exaggerated-manner-161646/
Franz Erhard Walther – Körper als Werkzeug
Walthers „1. Werksatz“ (1963-69) bestand aus textilen Objekten, die nur durch die aktive Beteiligung von Zuschauer:innen Bedeutung erhielten. Die körperliche Interaktion mit den Objekten stand im Mittelpunkt. Die Teilnehmer:innen werden aktiv einbezogen und beleben die Arbeiten durch direkte körperliche Aktion.
https://www.bundeskunsthalle.de/few
Tania Bruguera – Politische Performances mit emotionaler Provokation
In „Tatlin’s Whisper #5“ (2008) verwendete Bruguera Reiterpolizisten, um das Publikum zu kontrollieren, zu bewegen und zu provozieren. Diese Inszenierung von Macht und Frustration brachte die Zuschauer:innen an emotionale und moralische Grenzen.
https://www.tate.org.uk/research/publications/performance-at-tate/perspectives/tania-bruguera
Lygia Clark – Sensorische und emotionale Erfahrungen
Clark’s „Relational Objects“ (1976-1980) waren taktile, körperbezogene Werke, die dazu dienten, emotionale und sensorische Reaktionen bei den Teilnehmenden auszulösen.
http://pelicanbomb.com/art-review/2017/presence-silence-intimacy-duration-lygia-clarks-relational-objects
zuletzt geändert: 2024-12